Es war der kälteste Sommer Europas seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Die Temperaturen lagen um 3 bis 4 Grad unter dem Durchschnitt. Es regnete fast ununterbrochen. Die Ernten fielen buchstäblich ins Wasser. Cholera und Typhus brachen aus.
Die Meteorologie steckte 1816 noch in den Kinderschuhen. Niemand ahnte,
was Klimaforscher mehr als hundert Jahre später erkennen sollten: Es war der Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora am 10. April 1815, der dieses Furcht erregende "Jahr ohne Sommer" auslöste.
Vulkanischer Winter in Europa
Die Explosionsgewalt entsprach derjenigen von 170.000 Hiroshima-Bomben. Der Ausbruch war bis ins 2600 Kilometer entfernte Sumatra zu hören und gilt als stärkster verzeichneter Vulkanausbruch der Menschheitsgeschichte. 117.000 Menschen verloren ihr Leben. Die Stratosphäre war extrem mit Staubpartikeln belastet. 500.000 Quadratkilometer Erde wurden von schwefelhaltiger Vulkanasche verseucht. Winde trieben die Aschewolken des Tambora noch Jahre nach dem Ausbruch rund um die ganze Erde. Ein so genannter "vulkanischer Winter" brach über Europa und Nordamerika herein. Das Klima spielte verrückt. Schnee, Frost, Überschwemmungen - extreme Wetterphänomene lösten einander ab und versetzten die Menschen in Europa in Angst und Schrecken.
Sonnenstürme
Zeitungen meldeten, dass mit bloßem Auge Sonnenstürme auf der Oberfläche der Sonne zu erkennen seien. Die verängstigte Bevölkerung wertete dies als Zeichen des kurz bevorstehenden Weltuntergangs. Auf dem Höhepunkt der allgemeinen Hysterie wurde das Weltende für den 18. Juli 1816 prophezeit.
Das Jahr ohne Sommer - Frankensteins Geburtsstunde
Das positive Naturbild des 18. Jahrhunderts verdüsterte sich angesichts der unheimlichen Wetterlage. Der englische Dichter Lord Byron verarbeitete das apokalyptische Ereignis in seinem Poem "Finsternis". Auch ein anderes Werk der Weltliteratur verdankt seine Entstehung der Atmosphäre des außergewöhnlichen Sommers, der keiner war: Die erst 17-Jährige Mary Godwin, später verheiratete Shelley, soll damals in einer von Gewittern umtosten Villa am Genfer See das Konzept ihres Romans "Frankenstein oder der moderne Prometheus" entworfen haben.
Missernten, Hungersnöte, Seuchen
Die Klimakatastrophe wurde zur Hungerkatastrophe. In der dramatischen Lage häuften sich die Selbstmorde. In der Schweiz verfünffachte sich der Brotpreis innerhalb eines Jahres. "Historiker wissen", so der Münchner Historiker Wolfgang Burgdorf,"dass die Stabilität politischer Ordnungen immer insbesondere davon abhängt, dass die Ernährung der Bevölkerung sichergestellt wird. Ist die Ernährung der Bevölkerung nicht mehr gewährleistet, ist die Revolutionsgefahr extrem hoch." Wolfgang Burgdorf geht davon aus, dass die Krise des Sommers 1816 die Revolutionen 1830 und 1848 begünstigt hat.
Die Getreideernte fiel dem Frost zum Opfer.
Aufbruch aus der Krise
Die mitteleuropäische Agrarkrise gilt unter Historikern als letzte große Versorgungskrise der westlichen Welt. Sie dauerte bis 1817 an. Danach wurde alles anders. Die Krise erschütterte Regierungen und brachte zahlreiche wissenschaftliche und soziale Neuerungen: Etwa die Erfindung des Mineraldüngers, der die Erträge der heimischen Landwirtschaft steigern sollte, oder die Einrichtung von Wohltätigkeitsvereinen. Als sich das Dunkel lichtete, waren die Karten auch politisch neu gemischt.